...dann kann er was erzählen. Heute vor einer Woche kam ich in die Schweiz zurück. Dank der Hitzewelle liess mich wenigstens das Klima nicht im Stich und ich konnte mich immerhin wettermässig langsam an die Eidgenossenschaft gewöhnen. Doch mittlerweile hat sich bekanntlich auch die Hitzewelle längst wieder in Luft aufgelöst, und das Wetter ist gewohnt trist. Am Flughafen wurde ich von der Familie in Empfang genommen und habe in dieser Woche auch die restlichen "vermissten" Personen nach sechsmonatiger Abwesenheit wieder einmal gesehen. Diverse Trefen mit Freunden und Familie. Viele Fragen wurden mir gestellt, doch nur wenige konnte ich in der erhofften Form beantworten. Zu vielschichtig sind die kulturellen Unterschiede, zu frisch die Erinnerungen.
"Auf Reisen gleichen wir einem Film, der belichtet wird. Entwickeln wird ihn die Erinnerung." Max Frisch
An meinem zweiten Tag in der Schweiz wurde ich während meines ersten Migros-Aufenthalts seit sechs Monaten Zeuge einer "Petersilien-Krise". Eine Frau wollte eine Packung Petersilien kaufen, der Scanner an der Kasse konnte das Preisschild aber nicht einlesen. Nachdem sich die zwei anwesenden Verkäufer während rund einer Minute beraten und Krisenmanagement betrieben haben, wurde es der Frau langsam zu bunt und sie fing an zu "gifteln". Doch damit nicht genug. Denn die hinter der Kundin wartende Frau startete, nachdem auch sie die Geduld verlor, eine Verbalattacke in Richtung der immer verzweifelteren Kundin, worauf zwischen den beiden Damen eine Diskussion entbrannte. Irgendwann fand der Verkäufer aber doch noch eine Möglichkeit die Petersilien zu verbuchen und konnte somit die durchaus angespannte Lage glücklicherweise entschärfen. Als ich im Tram dann noch höre, wie sich eine ältere Dame über das Tram beschwert, es hat innert zwei Tagen bereits zum zweiten Mal satte zwei Minuten Verspätung, weiss ich definitiv, dass ich wieder daheim in der Schweiz bin. Überall werde ich komisch angeschaut, wenn ich meine Gegenüber in einem Gespräch anlächle oder mich allgemein freundlich verhalte. Ich habe mich in den vergangenen Monaten an die südländische Offenheit und Warmherzigkeit gewöhnt. Der Versuch, mit den Menschen im gleichen Lift oder mit einem Verkäufer an der Kasse ein lockeres Gespräch zu führen, stösst hier auf Unverständnis oder ungläubiges Staunen.
"Wer nie weggegangen ist, versteht die Heimkehrenden nicht." Walter Ludin
Ich will damit aber keinesfalls sagen, dass die Schweiz nur schlechte Seiten hat. Im Gegenteil sogar. Der Grossteil unserer Gesellschaft hat keine Ahnung, wie gut es uns
geht. Sie haben keine Ahnung davon, dass die meisten meiner
kolumbianischen Freunde am Abend in die Universität müssen, damit sie am
Tag arbeiten können um horrend hohe Gebühren zu bezahlen, die sich die
wenigsten Schweizer leisten könnten. Sie haben keine Ahnung davon, was
wirkliche Armut ist oder dass man abends ein Taxi per Telefon bestellen
muss. Nicht aus Bequemlichkeit, sondern damit man im Falle eines
Überfalls durch den Fahrer dessen Namen herausfinden könnte. Eine solche Reise und das Eintauchen in komplett andere Kulturen lassen einen auch Dinge vermissen, über die man vorher noch nie nachgedacht hat. Ich kann hier wieder unbesorgt WC-Papier herunterspülen und muss dabei nicht befürchten, dass ich so das ganze Abwassersystem des Wohnblocks verstopfe. Nachts auf dem Nachhauseweg ist der ausschlaggebende Faktor bei der Wahl zwischen Taxi und Fussmarsch nicht die Sicherheit sondern nur die Faulheit. Trinkwasser gibt es an jeder Ecke und auch an unserem öffentlichen Verkehr gibt es im Grossen und Ganzen rein gar nichts auszusetzen. Zudem, dessen blosse Existenz ist schon ein Pluspunkt. Ich kann mich wieder mit jemandem verabreden und mir sicher sein, dass diese Person auch tatsächlich zur genannten Zeit am genannten Ort ist. Die kleinen Dinge eben, an denen wir unseren Lebensstandard messen.
"Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat haben." Theodor Fontane
In den letzten sechs Monaten habe ich vieles gelernt. Ich habe Freunde aus aller Welt gewonnen und bin sicher auch persönlich gewachsen. Ein gewisses Mass an Durchhaltewille und Zielstrebigkeit ist unabdingbar, vor allem wenn man alleine reist. Die "Re-Helvetisierung" braucht sicher noch eine Weile, aber sicherlich schon bald werde auch ich wieder im Tram oder Zug sitzen und mit ernster Mine den Kontakt zu meiner Umwelt vermeiden. Zugegeben, gewisse neugewonnene Züge und Verhaltensweisen will ich eigentlich gar nicht aufgeben.
Was mich nach wie vor erstaunt, ist, wie wenig wir Europäer von Südamerika wissen. Ein weit entfernter Kontinent, der für uns eine eigene Welt darstellt und es bis zu einem gewissen Grad auch ist. Schlagworte wie Armut, Kriminalität und AIDS kommen uns in den Sinn, wenn wir an Südamerika denken. Dass diese Kulturen aber, halt in einer anderen Art und Weise, genau so hochentwickelt sind wie wir und uns in gewissen Punkten sogar weit überlegen sind, daran kann und will bei uns niemand denken. Man kann sich schlichtweg nicht vorstellen, wie das Leben in Lateinamerika spielt, weit abseits von Nordamerika und vielleicht noch Südostasien, das man von den Ferien kennt. Nein, Südamerika ist anders. Auf eine verwirrende, manchmal verstörende und trotzdem wunderbare Art. Es sind nicht unbedingt die Relikte aus vergangenen, längst erloschenen Zeiten. Es sind die Lebensfreude, die Leidenschaft und die unheimliche Gastfreundschaft, die jedes einzelne Individuum ausstrahlt. Das pulsierende und impulsive Leben, das macht Südamerika so faszinierend. Es ist eine Kultur, die man nicht einfach so verlassen kann. Zu intensiv ist sie, als dass man sie nach der Ankunft zu Hause sofort vergessen könnte.
"Der Sinn des Reisens besteht darin, unsere Phantasien durch die Wirklichkeit zu korrigieren. Statt uns die Welt vorzustellen, wie sie sein könnte, sehen wir sie wie sie ist." Samuel Johnson
Nun bin ich also wieder daheim und der Blog kann somit mit gutem Wissen abgeschlossen werden. Es bleibt mir nur mehr, mich bei euch für die Treue zu bedanken. Die etwas mehr als 3'600 Aufrufe meiner Seite, das sind etwa 20 pro Reisetag, finde ich nach wie vor erstaunlich und zeigen mir, dass sich die (nicht immer einfache) Schreibarbeit definitiv gelohnt hat.
In diesem Sinne wünsche ich euch alles Gute und hoffentlich viel Spass auf eurer nächsten Reise!
Machts gut,
Marco
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