In den nächsten fünf Tagen habe ich die einmalige Gelegenheit, einen Einblick in das kolumbianische Familienleben zu erhalten. Mein Freund Jorge Vargas lädt mich für diese Zeit in seine Heimatstadt Duitama ein. Kolumbien ist zurzeit noch im Ruhemodus, und nur die Wenigsten arbeiten. Wenn immer möglich, wird in der ersten Neujahrswoche die Familie besucht, und so tun wir es der Mehrheit gleich.
Nachdem ich um die Mittagszeit von Jorge mitsamt seinen Eltern abgeholt wurde, bringen wir zuerst seine Mutter an den Flughafen, damit diese per Flugzeug nach Cali reisen und ihre Familie besuchen kann. Obwohl sowohl weder Vater noch Mutter Englisch sprechen, werde ich sofort herzlich aufgenommen. Anschliessend fahren wir mit seinem Vater (ich sitze als Gast "selbstverständlich" auf dem bequemen Beifahrersitz) auf dem Rücksitz nach Duitama. Diese Stadt mit circa 100'000 Einwohnern ist Teil des Departemento de Boyacá (spr.: Boschaka) und liegt etwa 170 Kilometer nordöstlich von Bogotá. Das Hauptgeschäft der Stadt ist der Gütertransport. Wer mehr über Duitama erfahren möchte, klickt bitte hier: Wikipedia Duitama
Leider habe ich es versäumt, während der rund dreistündigen Fahrt Bilder zu machen. Wir passieren und überqueren Hügelketten, welche dem Jura sehr ähnlich sind; nur, alles ist so grün! Ich bin fasziniert von der Landschaft, dem kolumbianischen Fahrstil und dem Fakt, dass alle 500 Meter ein Militär mitsamt geladenem Sturmgewehr und Helm steht. Sollte einmal kein Soldat anzutreffen sein, steht ein Polizist da. Das Sicherheitsdispositiv Kolumbiens ist allgegenwärtig. Laut der Aussage meines Freundes soll dies dazu führen, dass sich die "Bad guys" auf der Strasse nicht sicher fühlen, was die allgemeine Sicherheit erhöht. Ich unterhalte mich rege mit Jorge über den Wandel Kolumbiens, den Drogenhandel und andere landestypische Dinge. Er erklärt mir den nationalen Konflikt zwischen der Regierung (inkl. Bevölkerung), den Paramilitärs und der FARC. Für das Land stehe es im Moment gut, sagt Jorge, denn die FARC seien im ganzen Land nicht mehr willkommen und regelrecht auf der Flucht. Sowieso sei Kolumbien aber nicht mehr das gleiche Land wie noch vor zehn oder sogar fünf Jahren. Er erklärt mir auch, dass viele Kolumbianer/innen jedoch überhaupt nicht gerne über diese Themen reden würden, da die Bevölkerung so lange unter der Situation und dem Drogenhandel gelitten hat. Das Ganze stimmt mich traurig, denn so etwas hat weder dieses wunderschöne Land noch die unglaublich freundliche Bevölkerung verdient. Was mich auch beschäftigt, ist die Differenz zwischen den einzelnen Gesellschaftsschichten. In Bogotá ist es möglich, 100 Meter neben einem wohlhabenden Viertel einen Slum anzutreffen. Wie er sich denn dabei fühle, frage ich Jorge. Die Antwort schockiert mich zwar zuerst ein bisschen, aber es ist wohl das Ehrlichste, was ich von einem Kolumbianer zu diesem Thema je hören werde; nach einer Weile kümmere einen die Armut nicht mehr wirklich, und man werde gewissermassen gleichgültig. Nach einer Denkpause kann ich ihn verstehen. Wir sind es uns in Europa nicht gewohnt, Armut zu sehen. Dies ist auch der Grund, weshalb sie uns so schockiert und uns zum Handeln drängt, sollten wir einmal direkt davor stehen. Wächst man aber mit der sozialen Ungerechtigkeit auf und wird tagtäglich damit konfrontiert, stumpft man irgendwann ab. Das Leben ist nicht fair und man gewöhnt sich besser daran...
Nach einer kurzweiligen Fahrt kommen wir bei Dunkelheit in Duitama an. Innerhalb von wenigen Minuten sind wir von Familienangehörigen umzingelt und ich werde neugierig begutachtet. Da jedoch (leider) niemand Englisch spricht, kann ich mich nicht mit ihnen unterhalten und beziehe mein Quartier in Jorges altem Zimmer (einmal mehr eine Selbstverständlichkeit, dass ich das grössere Zimmer und Bett erhalte und mein Freund in seinem eigenen Haus das Gästezimmer bezieht). Nach einer kurzen Dusche machen wir uns auf den Weg, um ein paar hundert Meter weiter zuerst einen Happen zu essen und anschliessend vier von Jorges Freunden in einer Bar mit Aussenbereich zu treffen. Auf dem Tisch stehen diverse Dosen Bier, ein paar kleine Wasserflaschen und eine Flasche Aguardiente. Dies ist der kolumbianische Nationalschnaps, welcher jedoch in jeder Region des Landes leicht variiert. Aguardiente ist mit Pastis zu vergleichen und schmeckt eigentlich grauenhaft. Er ist derart hässlich, dass man anschliessend einen grossen Schluck Bier oder Wasser trinkt, um den Nachgeschmack zu mindern. Getrunken wird er ausschliesslich in Shotform, jede Verkaufsstelle hält extra kleine Plastikbecher dafür bereit. Ich ergebe mich der nationalen Tradition und trinke ein paar Runden, bevor ich aufgrund der Müdigkeit einen Sicherheitsstopp einlege und zu Bier wechsle. Um Mitternacht gehen wir nach Hause, ein interessanter Tag geht zu Ende!
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